Platten brauchen keine Fönwelle – Mit Frl. Menke in Seenot
- Daniela Herbig
- 8. Dezember 2016
Es gibt Lieder, die hört man und dann bekommt man sie nicht mehr aus dem Kopf. Melodien, die sich so einprägen, daß die pharmazeutische Schlafmittel-Industrie eigentlich einen neuen Markt für sich entdecken könnte. Ist da wirklich noch niemand drauf gekommen? Also wirklich nicht? Den Zustand, daß Du eine Melodie ständig im Ohr hast, wie einen kleinen unsichtbaren Mann, der aus einer Endlos-Repeat-Taste zu bestehen scheint, und dir die Töne in schönen und nicht zu stoppenden Wiederholungsschleifen leise oder auch 'mal lauter in Deine Gehörgänge quasi einspeist. Und dabei völlig unberücksichtigt läßt, ob es sich dabei um den hellen Teil der 24 Stunden, also den Tag-Teil oder dem dunklen Teil des 24-Stunden-Rhythmus' handelt, auch als Nacht bekannt. Manchmal kann man sich nicht wehren. Egal, was man macht. Der Nachbar feiert wieder einmal eine Party in einer Lautstärke, daß das Porzellan langsam in seine wertvollen Einzelteile zerbricht. Mit dem Besen gegen die Wand klopfen!? Hilft zumindest dem Gefühl etwas tun zu können. Was aber kann man tun, wenn der "Quälgeist" sich direkt in einem selbst befindet? Wie auch immer er da reingekommen sein mag.
"Traumboy - ich bin so einsam, Traumboy, wann wirst du mein..." Ich werde gleich selbst "mein". Im Radio gehört, fast nebenbei, beim Schularbeiten-Machen. Soll man ja nicht. Also Hausaufgaben machen und dabei Musik hören. Ich konnte aber ohne Musik hören, keine Hausaufgaben machen. Wollte ich auch nicht. Und nun hatte ich den Schlamassel. Die "dunkle Seite der Macht" hatte Einzug gehalten. Na ja, eigentlich war es nur Zeit zum Schlafen gehen. An Schlaf war aber nicht im entferntesten zu denken. Ein von mir erträumter Zustand, jedoch konnte ich davon wahrlich nur träumen. Immer wieder diese Zeile. Wahrscheinlich hatte der "kleine Mann im Ohr" noch nicht den ganzen Text auswendig auf seiner Datenbank der "Melodien für Millionen" parat. Irgendwann in den frühen Morgenstunden fiel ich in einen kurzen Schlaf. Doch "Halt": Nachdem wieder irgendwelche mathematischen Gleichungen und mir ominös erscheinende Zahlenreihen auf Schäfchen-Wolken begegneten, hörte ich aus der Ferne eine mir mittlerweile ein klein wenig vertraute Melodie. "Traumboy, ich bin so einsam..." Meine Augen drehten sich nach innen und schon war ich wieder hellwach. Kann denn nicht irgendjemand dieser verzweifelten Frau diesen Traumprinzen bringen, damit ich endlich wieder meine Ruhe habe? Oder, hochverehrte Pharma-Industrie: "Ist da denn so gar nichts zu machen? Ein paar bunte Pillen gegen den "kleinen Mann im Ohr"? Leute, ihr habt gegen fast alles so ein kleines rundes oder gar eckiges Teilchen!" Den passenden Werbe-Slogan hätte ich bereits: "Sie haben einen "kleinen Mann im Ohr" - das kommt mit "Small Man Away" nicht mehr vor!" Oder so ähnlich.
Das war meine erste bewußte Begegnung mit Frl. Menke. Dass vorher schon "Hohe Berge" (bis heute 2,5 millionenmal verkauft) von ihr besungen wurden, erschloß sich mir erst nach dem "Traumboy". In der ZDF-Hitparade war man wohl von der Kostüm-Idee der Künstlerin nicht so angetan. Wollte diese doch in einem weißen Brautkleid mit Schleier auftreten. Das tat sie dann auch. Den Schleier holte sie jedoch erst während ihres Live-Auftritts hervor und setzte ihn sich ganz selbstverständlich auf den Kopf. Ach ja zu dieser Zeit wurden die "ZDF-Mainzelmännchen" schon arg geschüttelt und gebeutelt von diesen komischen Künstlern.
Die Stimme von Franziska Menke hatte und hat bis heute einen hohen Wiedererkennungswert. Das leicht rauchige in in ihrem Gesang prägte ihre Songs und gab ihnen das gewisse Etwas. Irgendwie war sie ein Typ. Etwas Eigenständiges. Das galt auch für ihre Art sich auf der Bühne zu bewegen. Das ist das, was in der NDW (Neue Deutsche Welle) ohnehin viel Kreativität bewies. Wenn ich Hubert Kah sage, weiß wohl jeder, was ich meine. Die Musiker machten einfach "ihr Ding". Gesanglich, outfitmäßig und überhaupt. Sie hauchten damit der deutschen Musiklandschaft "neues" Leben ein. Frl. Menke katapultierte sich zu einem NDW-Star und wurde 1982 von den BRAVO-Lesern unter die 10 beliebtesten Sängerinnen gewählt.
Als dann 1983 ihre dritte Single "Tretboot in Seenot" erschein, ereignete sich in meinen vier Wänden ein nahezu "traumatisches" Ereignis, welches ich auch noch selbst verursacht hatte. Dieses "Tretboot in Seenot" war nämlich auch so ein besagter Wurm, besser als Ohrwurm bekannt, gegen den die Pharmaindustrie scheinbar bis heute machtlos zu sein scheint. Das kleine runde schwarze Ding, auch Single genannt, hatte ich stolz erworben und hörte es nun rauf und runter. Im Nu war ich textsicher und hüpfte wie ein Flummi durch das Zimmer. Hätte mich jemand sehen können, hätte wahrscheinlich jeder gedacht, daß ich in Seenot bin. So weit so gut. Wenn ich nicht auf eine ganz hochintelligente und so gar nicht empfehlenswerte Idee gekommen wäre.
Haare waschen. Meine langen blonden Haare sollten frisch im Wind zu der Musik fliegen. Jawohl! Gedacht, getan. Beim Waschen der Haare trällerte ich fleißig: "...SOS will nach Haus', SOS will hier raus, SOS will nicht untergeh'n..." Nichts ahnend, daß meine gute Laune eine gehörige Abkühlung erfahren sollte. Ich holte meinen Föhn, um schnellstmöglich die zotteligen Haare trocken zu bekommen, damit ich mein in Seenot geratenes Tretboot schnell wieder auf den Plattenteller legen konnte. Aber warum eigentlich warten? Okay, der Föhn ist laut, aber dann mache ich halt die Lautstärke eben lauter als den Föhn. Eine geniale Idee einer Elfjährigen. Platte an, Föhn an und dann auch noch laut mitgesungen.
Eine knappe Minute später wunderte ich mich, daß die Töne, die ich vernahm sich seltsam verquer anhörten und eher aus einem Horror-Film entsprungen zu sein schienen. Ein prüfender Blick Richtung Plattenspieler, gefolgt von blankem Entsetzen. Was war das?! Das kleine runde schwarze Ding holperte nur noch im passenden gerade noch einwandfrei besungenem Wellengang über den Plattenteller. Die Nadel war allerdings bei diesem sehr heftigen Seegang dem Treiben nicht gewachsen und hatte sich verabschiedet. Föhn aus. Fassungslosigkeit, gefolgt von Wut über meine eigene Dummheit machte sich breit. Ja, aber dann liefen mir doch ein paar salzig schmeckende Tropfen über das Gesicht, denn ich konnte mir die Platte kein zweites Mal leisten. Aufgelöst im Tränenmeer rannte ich wie vom Blitz getroffen in die Küche zu meiner Mutter. Sie schaute mich an und dachte wunder, was Schlimmes passiert sei. Nach kurzer kaum zu verstehender Berichterstattung meinerseits, konnte meine Mutter sich das Lachen nicht verkneifen.
"So 'ne Platte hat nicht jeder", meinte sie. Ich wollte aber eine, die alle haben. Eine, die ich wieder abspielen kann! Wie mein Vater reagiert hat, als er dieses Kunst-Produkt sah, muß ich ja wohl nicht erwähnen. Nicht aufgeben lautete meine Devise. Nun war ich also auf Radio und Fernsehen angewiesen. Damit ich das Lied auf Kassette aufnehmen konnte. Aber "der kleine Mann" im Ohr hatte jetzt auch seine guten Seiten. Denn ich hatte dieses Lied auswendig mit Text im Kopf. Ob mit oder ohne Radio.
Frl. Menke bekam von diesem weltbewegenden Ereignis dieser ganz besonderen Föhnwelle auf "Tretboot in Seenot" natürlich nichts mit. Sie veröffentlichte noch zwei weitere Singles "Messeglück in Düsseldorf" (1983 Polydor) und "...die ganze Nacht" (1984 Wea). "Messeglück in Düsseldorf" ist leider schon etwas untergegangen. Völlig zu unrecht. Dieser Song zählt für mich heute zu ihren Klassikern. Das 1982 erschienene Album mit dem schlichten Titel "Frl. Menke", ebenfalls Polydor, habe ich mir erst viele Jahre später kaufen können. Es enthält ein paar ganz tolle Lieder, die ich auch 2015 noch sehr gerne höre. Neben den Hit-Singles "Hohe Berge" und "Traumboy" (in der Maxi-Version) sind für mich "Tag des Herrn", "Angst" und das unübertroffene "Ich sitz immer am Fenster" absolute Lieblings-Titel. Dort heißt es u.a.: "...mein Freund, der wählt alternativ, und ich sitz' immer am Fenster. Er meint ich sei wohl naiv, doch ich sitz' lieber am Fenster..." Die Texte schrieb / schreibt Franziska Menke selbst, oft zusammen mit Harry Gutowski, selbst Autor, Texter, Produzent und Musiker. Im Jahr 1998 wurde das Album unter dem Titel "Hohe Berge" erstmalig als CD veröffentlicht und enthält zusätzliche einige Single B-Seiten und Maxi-Versionen.
2010 veröffentlichte das ehemalige Fräulein-Wunder der NDW unter dem Namen Franzi Menke die Single "Freunde" und bewies mit dieser Veröffentlichung, daß sie auch im Hier und Jetzt als Musikerin angekommen ist. Eine leichte und eingängige Pop-Nummer mit einem schönen Text. Untätig war sie in der Zwischenzeit ohnehin nicht. Sie hat Musik für die Werbung geschrieben ("Berentzen"), ab 2000 spielte sie in verschiedenen Theater-Produktionen mit.
Bis heute tritt sie auch immer wieder mit einigen NDW-Kollegen auf NDW-Partys auf. Am 26. Dezember 2015 moderierte Franziska Menke das "Watts Up-Festival" in Cuxhaven. Medienpartner war RADIO fresh80s.
Aber was wurde aus dem "Tretboot in Seenot"-Trauma einer Elfjährigen? Im Jahr 2005 hat mir ein lieber Freund die Platte zu Weihnachten geschenkt. Trauma aufgelöst. 22 Jahre später konnte ich dieses kleine runde Ding wieder mein Eigen nennen. Geföhnt habe ich mir aber meine Haare seit diesem denkwürdigen Tag nie wieder in der Nähe eines laufenden Plattenspielers. Obwohl ich zugeben muß, dass das schon ein besonders gelungenes Kunstwerk war, was ich da ganz unbedarft mit meinem Föhn kreiert hatte. "Im Tretboot in Seenot treiben wir im Abendrot, zögernd gibt er zu versteh'n - Schatz, es ist kein Land zu seh'n..." Dieses Lied wird immer eine besondere Bedeutung in meinem Leben haben. Und wehe jemand erwähnt das Wort Föhn in diesem Zusammenhang. Wie, das habe ich schon selbst getan...? Niemals...
Daniela Herbig / RADIO fresh80s
Hinweis
Viele interessante Artikel gibt es auch auf der Homepage von Daniela Herbig unter: https://www.dalila-light.de
1987 sang Rio Reiser auf seinem zweiten Solo-Album "Blinder Passagier" (CBS) in dem Song "Arche B." (Text: Misha Schöneberg): "...neulich schrieb mir Noah einen Brief, bei euch da unten läuft doch alles schief, aber lass' uns jetzt nicht lange reden - wieso, weshalb und warum und weswegen...". Wenn Ralph Christian Möbius alias Rio Reiser heute noch leben würde, würde er vermutlich diese Textzeile genauso singen wie vor 29 Jahren. Die Menschheit steht nach wie vor vor denselben Problemen (mögen sich die Darstellungsformen mitunter auch in einem anderen Gesicht zeigen) und der Suche nach Antworten und umsetzbaren Lösungen.
Rio Reiser, der am Tag seiner Geburt am 09.01.1950 als erstes eine vierzig Watt Glühbirne erblickte und als zweites das Osram-Blitzlicht seines Vaters, hätte als Musiker, Texter und Songschreiber, der die Welt und das Leben neugierig und hinterfragend (er-)lebte und beobachtete, noch genügend Material für unzählige Songs. Seine Band "Ton Steine Scherben" (1970-1985) lieferte Anfang der Siebziger den Soundtrack der linken Szene mit den bekannten Titeln wie "Keine Macht für Niemand" oder "Macht kaputt, was euch kaputt macht". Einprägsame Parolen, die sofort im Ohr blieben. Man verschaffte sich Gehör. Und darum ging es letztendlich. "Ton Steine Scherben" verstanden sich als Musiker-Kollektiv, in dem Kreativität und das Entwickeln von Songs eine sehr wichtige Rolle spielten. Im Laufe der Zeit entzog sich die Band dem Anspruch und der Vereinnahmung der linken Szene und kaufte einen Bauernhof in Fresenhagen (Nordfriesland). Weit ab von Berlin entstanden neue Eindrücke und Ideen, die auf dem 1975 erschienenen Doppel-Album der Scherben "Wenn die Nacht am tiefsten..." (David Volksmund Produktion) ihren Weg auf Platte fanden. Noch deutlicher wurde der Abstand von Berlin auf der sogenannten "Schwarzen" (1981; David Volksmund Produktion). Ebenfalls eine Doppel-LP mit dem schlichten Titel "IV". Klassiker wie "Jenseits von Eden", "Der Turm stürzt ein" und "Heimweh" sind auf diesem Album verewigt worden. 1984 veröffentlichte die Major Company Wea die Single "Dr. Sommer" mit Rio Reiser, produziert von Annette Humpe und Gareth Jones . 1985 kam das Aus für die Scherben. Schulden von rund 200.000 DM hatten sich angehäuft. Die Band löste sich auf. Rio Reiser machte allein weiter.
1987 erschien das bereits oben erwähnte Album "Blinder Passagier" (CBS) und enthielt viele schöne Songs. Bänkelgesänge, Seemannslieder, Songs voller Poesie und Kritik. Die "Gropiuslerchen", die mit dem Lied "Berlin, Berlin" 1987 zur 750-Jahr-Feier Berlins in den Charts waren, sangen auf "Blinder Passagier"den Chor bei der wunderschönen Pop-Ballade "Der Sommer kommt". Mit "Manager" startete man einen zweiten Versuch um ein wenig an den Erfolg von "König von Deutschland" anzuknüpfen. Einzigartige Textzeilen, die mehr als deutlich machten, daß Rio Reiser ein Texter war, der seinesgleichen suchte, befanden sich auf diesem zweiten Longplayer. "...du sagst du willst die Welt nicht ändern, und ich frag' mich, wie machst du das nur..." ("Wann"; Text: Rio Reiser). Oder "Normal" (Text: Rio Reiser): "...ich bin normal wie du und ich, weiß was ich tun darf und was nicht, ich mach' alles, was man mir sagt, ich hab' noch nie Warum gefragt..." Rio Reiser war ein begnadeter Sänger und schaffte es jedem Song eine gesangliche Atmosphäre einzuhauchen, die den Zuhörer erreichte. Nicht nur oberflächlich, im Vorbeigehen, sondern tiefer. Er berührte die Seele. Die Herzen. Es gibt nicht so viele Sänger, die diese Tür bei ihren Hörern öffnen können. Denn hierbei geht es nicht um den perfekten Gesang, der jeden Ton trifft, sondern darum das Gefühl in die Stimme zu transportieren. Rio's Stimme konnte problemlos und gleichermaßen freche Rotzigkeit, Ironie, Liebeskummer, Sehnsucht, Verzweiflung und Stärke ausdrücken. All das floss authentisch in seine Songs ein.
Manchmal mußte es auch mit dem Kopf "Durch die Wand" sein. Für den im Tierkreiszeichen "Steinbock" geborenen Musiker traf auch dieses Merkmal zu. Spätestens mit dem vierten Studio-Album. "Durch die Wand" (Columbia) 1991. Als Single-Auskopplungen erschienen "Jetzt schlägt's dreizehn" (auch als Maxi erschienen) und "Nur dich" (1992). Lutz Kerschowski, ein Musiker aus der ehemaligen DDR, war mittlerweile festes Band-Mitglied bei Rio Reiser und schrieb den Text für "Nur dich". 1988 spielte er als Vorgruppe beim legendären Rio-Reiser-Konzert in der Werner-Seelenbinder-Halle. Der wunderschöne und eindringliche Song "Der Krieg" (Text: Rio Reiser) kommt auf diesem Album zwar nicht ganz so intensiv daher, wie auf der von Möbius-Rekords 1998 veröffentlichten CD "Rio am Piano I", ist aber bis heute unverzichtbarer und zeitloser Bestandteil der Rio-Must-Have-Songs: "...der Krieg, er ist nicht tot der Krieg, er ist nicht tot er schläft nur, er liegt da unterm Apfelbaum und wartet - auf dich, auf mich - er ist nicht tot der Krieg..."
Der Ein oder Andere mag sich jetzt fragen, warum hier nichts über seine Kindheit steht, über seine Jugend, nichts über das Hoffmann's Comic Teater, nichts über seinen ersten Kino-Fim "Johnny West", so wenig über Ton Steine Scherben, seine Mitgliedschaft in der PDS, nichts über Claudia Roth als Managerin der Scherben und nichts über seine Homosexualität und nichts über die Songs, die er für andere Künstler, wie Ulla Meinecke, Pe Werner u.a. geschrieben hat, nichts über seine Familie, nichts über weitere Film-Musiken und nichts über... All diese Dinge sind schon so oft ge- und beschrieben worden. In Büchern, Zeitschriften-Artikeln, In Foren, auf Webseiten, in Biografien und Autobiografien und und und. Dieser Artikel ist eine Erinnerung an einen einzigartigen Musiker, der die deutsche Sprache so wunderbar in Song-Texte transportieren konnte, daß Menschen sich in ihrer Seele und in ihrem Herz berührt gefühlt haben und immer noch fühlen. Das ist das, was immer bleibt: Die unvergessene Musik eines einzigartigen Künstlers. Und das ist das, was die Menschen verbindet. In Rio Reiser's Musik. "...da war ein Wort am Anfang der Welt, ein Wort das die dunkelste Nacht erhellt, das Wort war Liebe war das Wort und das ist der Schlüssel zum großen Tor..." ("Irrlicht"; Text: Rio Reiser)
Am 27. Februrar 2015 erschien das achtzehnte reguläre NENA-Album "Oldschool" (Lough & Peas Companay BMG) auf dem Markt. (Sämtliche Live-, Best Of-, englischsprachige und Kinder-Alben nicht mitgezählt.) Die mittlerweile 55-jährige Sängerin (geb. 24.03.1960) zählt zu den größten Popstars in der deutschen Musikgeschichte. Wer hätte das Anfang der Achtziger für möglich gehalten?
Mit den berühmten "99 Luftballons", geschrieben von Carlo Karges (gestorben am 30. Januar 2002), gelang den Nena's sogar der internationale Durchbruch. Weltweit flogen die "99 Luftballons" in die Charts ein. Der Anti-Kriegs-Song wurde von Christiane F., neben vielen anderen Titeln, mit auf eine USA-Reise genommen. DJ Rodney Bingenheimer vom nordamerikanischen alternativen Radio-Sender K-ROQ wurde auf das Lied aufmerksam. Dort gespielt, verbreitete sich der Song ebenfalls in rasantem Tempo und avancierte auch in den USA zu einem Mega-Hit. Die deutsche Original-Version der "99 Luftballons" flog in Amerika bis auf Platz 2. In England hingegen veröffentlichte man Ende 1983 mit "99 red balloons" eine englischsprachige Variante des Top-Hits, der es dann im Februar 1984 bis an die Spitzenposition der Charts schaffte.
Die steile Karriere von NENA glich fast einem Märchen. Mädchen und junge Frauen wollten unbedingt wie NENA aussehen. Jungs und Männer verliebten sich reihenweise in das deutsche Pop-Mädchen, welches mit seiner teils unbedarft, frech, fröhlichen Art vielleicht an eigene (verlorene) Träume und Sehnsüchte erinnerte. NENA versprühte eine Form von Lebendigkeit und Unbekümmertheit, die die alltäglichen Nöte und Sorgen ihrer Fans für einen Moment in den Hintergrund treten ließen. Als die NDW (Neue Deutsche Welle) 1982 ihre kommerzielle Hoch-Phase erreichte, wurde NENA zum Aushängeschild. An diesen vier Buchstaben kam keiner (mehr) vorbei. Die Jugendzeitschrift BRAVO platzierte das Fräuleinwunder wöchentlich auf der Titelseite und es verging kaum eine Ausgabe ohne NENA-News und Berichte. Es folgten Poster, Star-Sticker, Star-Album, Star-Bühne und zwei Star-Schnitte. Wer NENA unbedingt in Lebensgröße (wer wollte das damals nicht?) in seine vier Wände oder wo auch immer hinhängen wollte, hatte mit BRAVO die Zeitschrift gewählt, die es Teenie-Träumereien und Fantasien ermöglichte dem Liebling der Nation 'mal "so ganz nahe" zu kommen. Neben dem Jugendmagazin Nummer Eins, sprangen natürlich auch alle anderen Medien auf den NENA-D-Zug auf. Einschaltquoten und Auflagen ließen sich mit NENA erhöhen. NENA war ein Phänomen, welches manchmal wie aus einer fernen Galaxie auf diesem Planeten wirkte. Der "Stern" titelte 1983: "NENA - Der singende Zeitgeist".
Mit zunehmendem Erfolg kamen auch die Neider. Das immer gleiche Phänomen (besonders in Deutschland). Ist jemand erst einmal groß genug geworden, beginnt man langsam aber sicher den einst hochbejubelten Star daran zu erinnern, daß das Hoch jetzt nun reicht. Die aufgebauten Türmchen müssen wieder zertrümmert werden. Zugegeben kam NENA anfangs noch eher bescheiden daher, wurde mit dem stetig steigenden Erfolg auch schon 'mal ordentlich geprotzt. Aber das ist ja kein allein NENA-typisches Phänomen. In einer Welle von überschäumendem Erfolg und wenn einem die ganze Welt im wahrsten Sinne des Wortes zu Füßen liegt, ist es ganz sicher auch nicht leicht immer die "Bodenhaftung" zu bewahren. Erfolg will auch verarbeitet werden. Und dafür hatte die Band schlichtweg keine Zeit.
Das Album "Feuer & Flamme" (CBS), welches ebenfalls auch als komplett englischsprachige Ausgabe erschien unter dem Titel "It's all in the game" (CBS), zeichnete sich durch eine tolle, wenn auch manchmal "etwas zu viel-Produktion" aus. Auch die Texte wirkten "gereifter". In "Haus der drei Sonnen" (Text: Carlo Karges; Musik: Uwe Fahrenkrog-Petersen) wurde die Geschichte eines Spielers erzählt, der sich an den Spielautomaten verliert und "Das alte Lied" (Text: Carlo Karges; Musik: Jürgen Dehmel) handelte von dem immer gleichen Trott und das jeder immer das macht, was er eben macht. Tagein tagaus, ohne vielleicht einmal innezuhalten, ob das nun auch wirklich so richtig ist. Dieses tagein tagaus. "...Spekulanten spekulieren, Demonstranten demonstrieren, Polizisten patroullieren...und die ganze Welt singt mit das alte Lied..." Die NENA-Fans wollten das alte NENA-Lied aber immer weniger mitsingen und zogen sich zurück oder wandten ihre Aufmerksamkeit anderen Dingen zu. Mit "Du kennst die Liebe nicht" (Text und Musik: Nena Kerner) wurde 1986 eine völlig neu arrangierte Single- und Maxi-Version des Lieblingsstücks der NENA-Fans vom "Feuer & Flamme"-Album veröffentlicht, die musikalisch nichts mehr mit der Version vom Longplayer gemeinsam hatte. Aus einer Ballade wurde nun ein Rock-Song.
1986 erschien das letzte NENA-Album als Band. "Eisbrecher" (CBS). Hier war man wieder zurückgekehrt. Zu den Wurzeln. Und man hoffte, daß auch die Fans wieder den Weg zu NENA finden würden. "...es ging alles viel zu schnell, deshalb konntet ihr uns auch gar nicht seh'n, wir wollten euch auch nicht schockier'n, doch wir hoffen auf ein Wiederseh'n...", hieß es in "Mondsong", der ersten Single-Auskopplung. "Mondsong" schaffte es immerhin noch einmal auf Platz 36 der Single-Charts, konnte aber an die Erfolge von einst nicht mehr anknüpfen. Das Album klang durchweg erdiger und rockiger als das sehr stark, an manchen Stellen, wie oben bereits erwähnt, auch etwas überproduzierte "Feuer & Flamme".
"Wunder gescheh'n - wir dürfen nicht nur an das glauben, was wir seh'n". Ein wichtiger Satz. Denn nichts ist bekanntlich so wie es scheint. Das traf auch auf den einstigen Super-Star NENA zu. 1989 meldete sie sich mit ihrem ersten Solo-Album ("Wunder gescheh'n", Epic) wieder sehr erfolgreich zurück. Es war eben noch nicht vorbei. Mit der Karriere. Auf dieser LP verarbeitete die Sängerin den Tod ihres ersten Kindes Christopher, der behindert zur Welt gekommen war. NENA gab diesem Kind all ihre Liebe und ging mit ihm gemeinsam den Weg seines kurzen Lebens. In regelmäßigen Abständen veröffentlichte NENA Album um Album. Erfand sich immer wieder neu. Kurze Haare, lange Haare, blond, braun, schwarz. Durchaus auch von Pop-Ikonen wie Madonna und Kylie Minogue inspiriert. Musikalisch versuchte sie sich immer wieder in unterschiedlichen Stilen, denen sie aber mit ihrer unverwechselbaren Stimme das typische "NENA-Gewand" gab. Spiritualität wurde für die Künstlerin ein immer wichtigeres Thema. Auch in der Öffentlichkeit sprach sie offen über ihre Ansichten und Lebenseinstellung und stieß damit nicht immer auf Verständnis.
2002 gelang der Sängerin ein phänomenales "Comeback". Mit "Nena feat. Nena" stürmte sie die Charts wie zu Zeiten der NDW. Die alten Songs neu aufgenommen. Teilweise mit Künstlern wie Udo Lindenberg, Kim Wilde u.a. eingesungen. Spätestens seit diesem Album ist NENA wieder konstant in den obersten Chartpositionen vertreten. "...Ihr kennt mich vielleicht noch von ein paar Klassikern aus den Achtzigern...", lautet eine Zeile aus dem aktuellen Album von 2015 "Oldschool", an dem u.a. auch Samy DeLuxe erheblich beteiligt war. Ja, so kann man es in etwa beschreiben. Ein "paar" NENA-Klassiker kennt wohl jeder. Oder um mit einem weiteren Zitat aus "Oldschool" zu antworten: "...und so singen wir die ganze Nacht unsere Lieblingslieder, Lieder von früher..." Und von heute! NENA hat es geschafft mehrere Generationen mit ihrer Musik zu verbinden. Das ist das, was letztendlich zählt. Die Verbindung von Menschen untereinander.
Am 03.05.1952 erblickte eine gewisse Rosemarie Precht das Licht der Welt. 31 Jahre später lief ein Titel in sämtlichen Radio-Stationen rauf und runter. "Rosa auf Hawaii". Text hatte dieser Song, außer "...dadadiaodijei..." nicht (viel), aber eine tolle und eingängige Melodie. Der Song blieb im Ohr und machte neugierig auf die Stimme, die das sang. Wer war'n das? Die Öffentlichkeit wurde aufmerksam auf ein Projekt namens "COSA ROSA". Die Single "Rosa auf Hawaii" etablierte "COSA ROSA". Jetzt hatte man zwar einen Namen, jedoch wußte man immer noch nicht genau: Wer war'n das? "COSA ROSA" war das gemeinsame Projekt von Spliff-Keyboarder und Nena-Produzent Reinhold Heil und besagter Rosemarie Precht.
"Formel Eins" (1983-1990) war in den Achtzigern die angesagteste und schlichtweg einzige Musik-Sendung, in der Musik-Videos aus den aktuellen Charts bundesweit gespielt wurden. Es wurde immer wichtiger nicht nur im Radio gespielt zu werden, sondern auch eine visuelle Umsetzung der entsprechenden Singles zu präsentieren. "COSA ROSA" drehten zusammen mit Michael Bentele (seinerzeit "Formel Eins - Regisseur") in München einen Clip zu "Rosa auf Hawaii". Als Special Guest war Eisi Gulp mit am Start. Auch zu "Her mit dem Kindergeld" wurde ein Video produziert. Die Rakete "COSA ROSA" war gezündet. Rakete? Ein gewisser Jim Rakete (eigentlich Günther Rakete) hatte in der Zeit von 1977 bis 1987 in einer Kreuzberger Fabriketage eine Fotoagentur mit dem schlichten Namen "Fabrik". Segitzdamm 2 in 1000 Berlin 61. Diese Adresse konnte man auf vielen Back-Covern in den achtziger Jahren lesen. Eigentlich arbeitete er als Fotograf und Fotojournalist, betreute aber Ende der Siebziger bis Ende der Achtziger viele Künstler als Manager und/oder Fotograf. Darunter befanden sich u.a. Nena, Die Ärzte, Spliff und auch COSA ROSA.
In die ZDF-Hitparade schaffte es Rosa insgesamt zweimal. Mit "Millionenmal" erreichte sie ihren größten Erfolg und war mit diesem Titel natürlich auch in der "Hitparade" zu Gast, wo auch ich ihr kurz vor der Generalprobe begegnen durfte. Der Song katapultierte sich in die Top Ten der Verkaufs-Charts. Ein Radio-Dauerbrenner ist er bis heute. "Millionenmal" ist DAS "COSA ROSA"-Lied, mit dem fast jeder Rosa identifiziert. "...ich spucke in die Luft und warte was passiert...manche mögen Männer mit Millionen - manche mögen Männer mit Moral..."
Nur ein Jahr später, 1986, sollte das dritte und letzte Album der begabten Musikerin erscheinen. Als Vorab-Single wählte man einen wunderbaren Pop-Song. "Puppe kaputt". "...die Automatik defekt, das Gewissen versagt, ab heute geht's nur noch ab und nicht zu knapp. Vom eigenen Gelächter aus dem Schlaf gerissen, stehst du auf und hast im Glashaus mit Steinen geschmissen..." "Puppe kaputt" schaffte es in die Top 100. Das folgende Album mit dem schlichten Titel "COSA ROSA" war voller melodischer musikalischer Klangbilder und wunderschöner Geschichten, die Rosa mit ihrer gefühlvollen Stimme prägte. Mit "Was ich will" wurde noch eine weitere Single ausgekoppelt. Es sollte die letzte Veröffentlichung von ihr bleiben.